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Die Wahrheit hinter den Arbeitslosenzahlen

(o-ton) Pünktlich zum Jahreswechsel überschlugen sich die Erfolgsmeldungen rund um das „deutsche Jobwunder“. Für Arbeitsmarktexperten ist die frohe Kunde aber nur die halbe Wahrheit. Arbeitsmarktexperte Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der FH Koblenz erklärt in einem Interview, was die offiziellen Zahlen verschweigen.

Die Meldung zum deutschen Arbeitsmarkt lassen staunen. Trotz Euro-Krise und abflauender Konjunktur hat die Arbeitslosenzahl inzwischen die Dreimillionenmarke unterschritten. 2005 waren es noch fünf Millionen. Arbeitsministerin von der Leyen pries die Lage als „grundsolide“ und prognostizierte „einen weiteren Abbau der Arbeitslosigkeit“. Die Bundesagentur für Arbeit meldete durchschnittlich weniger als drei Millionen Arbeitslose in 2011. Das Statistische Bundesamt legte nach: „41 Millionen Erwerbstätige im Jahresdurchschnitt, Beschäftigung auf Rekordniveau“.

Die Politik sieht Anlass zum Feiern. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie verbreitete die frohe Kunde über eine groß angelegte Werbekampagne: „Danke, Deutschland. So viele Menschen in Arbeit wie nie zuvor“, hieß es von Plakatwänden, aus Zeitungen und Zeitschriften. Doch ganz so eindeutig ist die Lage nicht.

Prof. Sell bewertet das „deutsche Jobwunder“:

Arbeitslos ist nicht gleich arbeitslos

Anfang des Jahres trübten Medienberichte über eine Anfrage der Grünen die Freudenstimmung. Diese hatte aufgedeckt, dass die Statistik rund 100.000 über 58-jährige Arbeitslose verschweigt, die über ein Jahr ALG II (Hartz IV) beziehen und in dieser Zeit kein Jobangebot erhalten haben. Doch die 100.000 Menschen sind nur die Spitze des Eisbergs einer ganzen Gruppe von de-facto-Arbeitslosen, die die Bundesagentur für Arbeit in einer separaten Kategorie führt, der Unterbeschäftigung. Hinzu kommen weitere Gruppen „inoffiziell“ Arbeitsloser.

Prof. Sell erklärt die Kategorien von Arbeitslosigkeit in der offiziellen Statistik:

Arbeitsmarkt 2005 vs. Arbeitsmarkt 2011

Die offizielle Zahl der registrierten Arbeitslosen bildet das tatsächliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht vollständig ab. Berücksichtigt man auch die Unterbeschäftigten, Kurzarbeiter und die Stille Reserve, liegt die tatsächliche Arbeitslosigkeit bei über viereinhalb Millionen Menschen. Zu der Rekordsumme von fünf Millionen Arbeitslosen aus 2005 ist es da nicht mehr weit. Was hat sich also wirklich getan in den Jahren nach den Hartz-Reformen?

Prof. Sell zur Entwicklung des Arbeitsmarkts seit 2005:

Quelle: Bundesagentur für Arbeit; Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Darstellung O-Ton Arbeitsmarkt.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit; Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Darstellung O-Ton Arbeitsmarkt.

Das „Jobwunder“ hat seinen Preis

Die Daten belegen: Seit 2005 ist die Zahl der Erwerbstätigen von 39 auf aktuell 41 Millionen Menschen angewachsen. Parallel ist nicht nur die registrierte Arbeitslosigkeit, sondern auch die Unterbeschäftigung gesunken. Mehr Menschen sind in Arbeit, neue Arbeitsplätze sind entstanden. Doch die Zahlen schweigen über die Art der entstandenen Arbeitsplätze.

Prof. Sell zur massiven Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und den Folgen dieser Entwicklung:

Mediengemachter Erfolg?

Mehr Menschen haben Arbeit, aber pro Kopf hat die Arbeitszeit abgenommen. Prekäre Beschäftigung ist auf dem Vormarsch. Immer weniger Menschen können von ihrer Arbeit leben und stocken ihr Gehalt mit Arbeitslosengeld II auf. Der vermeintliche Erfolg hat eine Kehrseite, aber die wenigsten wissen davon, denn die Medien fokussieren auf Positivmeldungen.

Prof. Sell über Hintergründe der einseitigen Berichterstattung in den Medien:

Die schöngefärbte Arbeitsmarktsituation und ihre Folgen

Arbeitsmarktzahlen sind komplex. Die Kategorisierungen in der offiziellen Statistik verkomplizieren zusätzlich. Die Konzentration auf einzelne Werte wie die offizielle Arbeitslosenzahl macht das Thema auf der einen Seite griffig. Auf der anderen Seite wird die Thematik so stark reduziert, dass die Arbeitsmarktsituation deutlich positiver wahrgenommen wird, als sie tatsächlich ist.

Prof. Sell erläutert die Gefahren einer einseitigen Berichterstattung:

Baustellen am deutschen Arbeitsmarkt

Auch wenn es die sich überschlagenden Positivmeldungen vom deutschen Arbeitsmarkt suggerieren: Es ist also längst nicht alles Gold, was glänzt. Die Arbeitsmarktpolitik steht weiterhin vor großen Herausforderungen.

Prof. Sell beurteilt den Handlungsbedarf der nächsten Jahre: