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Zukunftswerkstatt SGB II: Was sich Langzeitarbeitslose wünschen

(o-ton) Mehr Langzeitarbeitslose in Arbeit zu bringen, ist erklärtes Ziel von Bundesarbeitsministerin Nahles. Ihr Ministerium hat zuletzt mehrere Modellprojekte gestartet. Entworfen werden diese am grünen Tisch, ohne die Betroffenen nach ihrer Position zu befragen. Doch was wollen die Langzeitarbeitslosen selbst und welche Probleme sehen die Personen, die täglich mit den politischen Rahmenbedingungen leben müssen? Sozialwissenschaftler des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik der Hochschule Koblenz haben Kritikpunkte und Wünsche von Betroffenen zusammengetragen.

Langzeitarbeitslose wünschen sich eine Gesellschaft, die Verständnis für ihre Lebenssituation hat und ihnen mit weniger Vorurteilen begegnet, Zugang zu Arbeit, eine transparente und hochwertige Beratung in Jobcentern und die Abschaffung von Sanktionen. Das sind die zentralen Ergebnisse einer Studie des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik (IBUS) der Hochschule Koblenz in Kooperation mit der Aktion Arbeit des Bistums Trier, dem Diözesan-Caritasverband Trier, der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe. Gemeinsam mit Dr. Kordula Schlösser-Kost und Domvikar Dr. Hans Günther Ullrich stellten Prof. Dr. Stefan Sell, Direktor des IBUS, und Tim Obermeier die zentralen Ergebnisse am 21. Oktober in Trier vor.

Das Forscherteam um Prof. Dr. Sell war der Frage nachgegangen, was langzeitarbeitslosen Menschen fehlt, um ihre Lebenssituation zu verbessern. Das Besondere der Studie: In sogenannten Zukunftsworkshops wurde nicht über die betroffenen Menschen, sondern mit ihnen gesprochen. Bei drei moderierten Veranstaltungen hatten insgesamt 48 langzeitarbeitslose Menschen Gelegenheit, Kritik an den aktuellen arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen zu üben und alternative Zukunftsfantasien zu entwickeln.

Hintergrund des Forschungsprojektes ist das Wissen darum, dass sich langzeitarbeitslose Menschen besonders selten politisch engagieren und kaum noch an Wahlen teilnehmen. Ihre Interessen und Forderungen finden auf politischer Ebene daher kaum Gehör.

Solidarität, Arbeitsplätze, bessere Betreuung

Die Workshopteilnehmenden kritisierten immer wieder die massiven Vorurteile, mit denen sie täglich konfrontiert seien und die die Arbeits- und Wohnungssuche erschwerten. Sie wünschten sich eine inklusive Gesellschaft, soziale Kontakte, Solidarität sowie kostenlosen oder vergünstigten Zugang zu Kultur und Bildung, erklärten die Forscher des IBUS. Zudem stehe Arbeit, auch wenn sie öffentlich gefördert ist, weit oben auf der Wunschliste. Denn trotz hoher Arbeitsmotivation machten die Betroffenen die Erfahrung, am Arbeitsmarkt schlichtweg nicht gebraucht zu werden. Sanktionen und ein Zwang zur Arbeitsaufnahme würden daher als unnötig und schikanierend empfunden. Ein weiteres dominierendes Thema waren die als desaströs wahrgenommenen Zustände in den Jobcentern. So wünschten sich die Teilnehmenden zufriedenes Jobcenterpersonal, eine nachvollziehbare Rechtslage sowie eine transparente und hochwertige Beratung.

Für die Forscher waren diese Ergebnisse keineswegs unerwartet, denn Arbeitsmarktexperten äußern ähnliche Kritikpunkte bereits seit Langem. Während die Wissenschaft das System allerdings mit dem Blick von außen kritisiert, haben die Betroffenen einen persönlichen Bezug zu den Auswirkungen der Arbeitsmarktpolitik. Umso deutlicher machten die Ergebnisse den Handlungsbedarf, so die Wissenschaftler des IBUS. „Wenn es seit über zehn Jahren fast dieselben Kritikpunkte sind und es zu keiner Verbesserung gekommen ist, besteht dringender Handlungsbedarf, das System endlich grundlegend zu reformieren“, schlussfolgert das Team um Prof. Dr. Sell.

Prof. Dr. Stefan Sell empfiehlt Änderungen im arbeitsmarktpolitischen Instrumentenkasten

Und um die Rahmenbedingungen für Langzeitarbeitslose sinnvoll zu verbessern, müsse man keinesfalls das Rad neu erfinden, erklärte Prof. Dr. Stefan Sell. Man könne hier auf Altbewährtes zurückgreifen, indem das Förderrecht im Sozialgesetzbuch II in einem positiven Sinne radikal entrümpelt und die alten Paragrafen 18 bis 20 aus dem Bundessozialhilfegesetz („Hilfe zur Arbeit“) wieder eingeführt würden, statt ständig neue Modellprojekte und weitere Paragrafenanhängsel zu initiieren und produzieren. In diesen drei Paragrafen war der gesamte notwendige Förderkasten für eine sinnvolle Arbeitsmarktpolitik enthalten. Die große Koalition hat die Möglichkeit, entsprechende Reformen umzusetzen. Würde man sich hier nicht endlich an die Arbeit machen, grenze das an Arbeitsverweigerung angesichts der von allen Praktikern und vielen Experten seit langem kritisierten Überbürokratisierung des Förderrechts, kritisierte Sell.

Kirchen fordern Umdenken auf Seiten der Politik

Dr. Hans Günther Ullrich, Bischöflicher Beauftragter der Aktion Arbeit im Bistum Trier, und Dr. Kordula Schlösser-Kost von der Evangelischen Kirche im Rheinland stellten den Aufruf der Kirchen „Umdenken – Umsteuern – Umfinanzieren“ vor, der auf Basis der Forschungsergebnisse des IBUS nachhaltige Veränderung in der Arbeitsmarktpolitik für Langzeitarbeitslose fordert. So seien insbesondere die Jobcenter finanziell und personell besser auszustatten, um die Betroffenen individuell fördern zu können und in einen dauerhaften öffentlich geförderten Arbeitsmarkt zu investieren. Zudem sei es wichtig, das Klischee vom faulen Arbeitslosen zu bekämpfen, denn es entspreche in den seltensten Fällen der Realität.

Landesregierungen fordern Bund zum Handeln auf

Die rheinland-pfälzische Arbeitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler betonte die Erfolge der Hartz-Reformen, räumte aber ein, dass man noch vieles verbessern könne. Dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen stagniere und der Anteil der Langzeit- an allen Empfängern von Grundsicherung („Hartz IV“) mit etwa zwei Drittel extrem hoch sei, sei ein massives Problem. „Bisher sind wir hier nur in Trippelschritten voran gekommen“, resümierte die Ministerin. Bätzing-Lichtenthäler kritisierte die unverhältnismäßigen Mittelkürzungen des Bundes und die Instrumentenreform aus dem Jahr 2012 mit den weitreichenden Einschränkungen im arbeitsmarktpolitischen Instrumentenkasten. Rheinland-Pfalz und andere Bundesländer hätten dieses Problem bereits seit Langem erkannt und appellierten an den Bund, tätig zu werden.

Lothar Gretsch vom saarländischen Arbeitsministerium resümierte: „Die Republik ist dazu in der Lage, mit Kurzzeitarbeitslosigkeit umzugehen, aber Langzeitarbeitslosigkeit ist ein massives Problem.“ Es sei ein gesellschaftlicher Skandal, dass Menschen seit zehn Jahren von der Grundsicherung („Hartz IV“) lebten. Deshalb müssten die arbeitsmarktpolitischen Instrumente dringend weiterentwickelt und auch mehr Geld in die Hand genommen werden. Die Bundesländer hätten hierzu einen gemeinsamen Antrag an den Bund gestellt.

Zum Weiterlesen:

Obermeier, Tim; Schultheis, Kathrin: Zukunftswerkstatt SGB II. Teilhabe in der Grundsicherung. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 18-2015. Remagen 2015

Bistum Trier, Vom beforschten Objekt zum handelnden Subjekt