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Aufstocken mit Hartz IV: Subventionieren die Jobcenter Dumpinglöhne?

10,51 Milliarden Euro an Hartz-IV-Leistungen gaben die Jobcenter im vergangenen Jahr für Aufstocker-Bedarfsgemeinschaften aus, in denen mindestens eine Person erwerbstätig war. Kompensiert der Sozialstaat also prekäre Arbeitsverhältnisse und Dumpinglöhne oder sind die Zahlungen eher ein Ausdruck der Sozialstruktur im Hartz-IV-System?

Erwerbstätige, deren Einkommen nicht das Existenzminimum deckt, können aufstockende Hartz-IV-Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende in Anspruch nehmen. Aus der Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) geht hervor, dass im vergangenen Jahr rund eine Million Haushalte ihre Lebenshaltungskosten aus einer Kombination von Erwerbseinkommen und Hartz-IV-Leistungen deckten. An diese Haushalte wurden Hartz-IV-Leistungen in Höhe von insgesamt 10,51 Milliarden Euro ausgezahlt.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Darstellung O-Ton Arbeitsmarkt.

Für Sabine Zimmermann, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Partei Die Linke, sind die hohen Zahlungen an Aufstocker-Haushalte eine Subventionierung von Lohndumping sowie von Teilzeit- und geringfügiger Beschäftigung. Gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland beklagt Zimmermann: „Die Gesellschaft subventioniert so seit vielen Jahren Arbeitgeber, die Niedriglöhne zahlen oder ihren Beschäftigten nur Arbeitsverhältnisse in Teilzeit oder Minijobs anbieten, obwohl viele gerne länger arbeiten würden. Das ist eine verdeckte Subventionierung von Lohndumping, mit der die Bundesregierung prekäre Beschäftigung vorantreibt und zementiert.“

Nur wenige Aufstocker arbeiten in Vollzeit

Doch der Vorwurf des Lohndumpings lässt sich anhand der BA-Statistik nicht eindeutig bestätigen. So zeigen die Zahlen der BA über erwerbstätige Hartz-IV-Empfänger (erwerbsfähige Leistungsberechtigte), dass im Jahr 2018 nur rund 12 Prozent der knapp 1,1 Millionen Aufstocker in Vollzeit tätig waren. Mit einem Anteil von über einem Drittel machten hingegen Teilzeitbeschäftigte die größte Gruppe unter den Aufstockern aus. Ein weiteres Drittel der Aufstocker ging lediglich einer geringfügigen Beschäftigung („Minijob“) nach. Für diese Personen dürfte eher der Beschäftigungsumfang denn unzureichende Löhne der Grund für das Aufstocken mit Hartz IV sein.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Darstellung O-Ton Arbeitsmarkt.

Aufstockende Leistungen hängen von der Bedarfsgemeinschaft ab

Außerdem werden die aufstockenden Leistungen nicht anhand des individuellen Bedarfs des einzelnen Erwerbstätigen, sondern anhand des Bedarfs der gesamten jeweiligen Bedarfsgemeinschaft berechnet. Ob Löhne bedarfsdeckend sind, hängt demnach immer davon ab, wie viele Personen von ihnen versorgt werden müssen. Die für 2018 ermittelten 10,51 Milliarden Euro an aufstockenden Leistungen wurden also nicht nur zur Deckung der Lebenshaltungskosten von Ein-Personen-Haushalten aufgebracht, sondern beziehen sich auf die Kosten für alle Bedarfsgemeinschaften, die zumeist aus mehreren Personen bestehen.

Im April 2019 lebte nur etwa jeder Dritte erwerbstätige Leistungsberechtigte in einem Single-Haushalt. Knapp zwei Drittel der erwerbstätigen Aufstocker lebte hingegen in einem Mehrpersonenhaushalt in einer Alleinerziehenden-Bedarfsgemeinschaft oder in einer Partner-Bedarfsgemeinschaft mit oder ohne Kinder. Wenn man die Haushaltsformen von Vollzeiterwerbstätigen im Hartz-IV-Bezug betrachtet, zeigt sich noch deutlicher, dass Löhne vor allem dann nicht ausreichen, wenn mehr als eine Person von ihnen ernährt werden muss. So gab es im April 2019 laut BA-Statistik gerade einmal rund 26.000 Vollzeiterwerbstätige im Hartz-IV-Bezug, die in einer Single-Bedarfsgemeinschaft lebten.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Darstellung O-Ton Arbeitsmarkt.

Allerdings darf bei der Diskussion um Erwerbsarmut und Dumpinglöhne nicht vergessen werden, dass bei weitem nicht alle Personen, die einen Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen hätten, diesen auch einlösen. Studien gehen davon aus, dass bis zu zwei Drittel der Erwerbstätigen, die eigentlich Hartz-IV-Leistungen beziehen könnten, auf ihren Anspruch verzichten. Die BA-Statistik über Aufstocker bildet das Ausmaß der Erwerbsarmut in Deutschland also nur äußerst lückenhaft ab. Außerdem gibt es mehrere Millionen Vollzeitbeschäftigte, die mit ihrem Einkommen knapp über der Hartz-IV-Bedarfsgrenze liegen, bei der eindimensionalen Fokussierung auf das Aufstocken mit Hartz IV aber folglich ausgeblendet werden, wie zum Beispiel auch Sozialwissenschaftler Stefan Sell, Hochschule Koblenz, kritisiert.

von Lena Becher



Zum Weiterlesen:

Bundesagentur für Arbeit, Erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsberechtigte – Deutschland, West/Ost, Länder und Kreise (Monats- und Jahreszahlen), Juli 2019.

Buchsteiner, Rasmus (2019), Hartz IV: Staat stockte 2018 Löhne um fast 10 Milliarden Euro auf, in: Redaktionsnetzwerk Deutschland, 13.11.2019.

Sell, Stefan (2019), Die „Aufstocker“ im Hartz IV-System: 10 Milliarden Euro im Jahr 2018 für die „Subventionierung von Lohndumping“? Eine Spurensuche in den offiziellen Daten, in: Aktuelle Sozialpolitik, 14.11.2019.