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Erwerbsunfähig oder arbeitslos? Gießener Arbeitsmarktprojekt lotet Grenzen aus

(o-ton) Langzeitarbeitslose vor der Erwerbsunfähigkeit bewahren und Erwerbsunfähige wieder fit für den Arbeitsmarkt machen, das ist das Ziel von „Auffordern statt Aufgeben“ (AsA), einem Arbeitsmarktprojekt des Landkreises Gießen. Die verrentete Johanna Richter (39)* hat es durch AsA bis zum Ausbildungsabschluss geschafft. Stefan Henkel (25)* hilft das Programm beim Kampf gegen seine Suchterkrankung.

*Namen von der Redaktion geändert

Die Grenzen zwischen Erwerbsunfähigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit können fließend sein. Bei manchen Dauerarbeitslosen ist nicht klar, ob sie wirklich drei Stunden täglich arbeiten könnten. Diese Drei-Stunden-Marke entscheidet im deutschen Sozialsystem darüber, ob eine Person noch erwerbsfähig ist und damit Hartz IV-Leistungen bezieht sowie arbeitsmarktpolitisch gefördert wird oder eine Erwerbsminderungsrente erhält und die Perspektive auf Arbeit damit in weite Ferne rückt. Zudem ist das Risiko, in die Erwerbsunfähigkeit abzurutschen sehr hoch.

Umgekehrt kann ein Erwerbsunfähiger aber auch so stabil und leistungsfähig werden, dass Arbeit wieder möglich ist. Das Projekt „Auffordern statt Aufgeben“ (AsA) des Landkreises Gießen setzt genau hier an. Menschen beider Gruppen arbeiten gemeinsam bei einem arbeitsmarktpolitischen Träger und werden gleichzeitig pädagogisch unterstützt.

Die Jugendwerkstatt Gießen setzt das Projekt um. Seit 2010 wurden jährlich 15 Plätze für sechs bis 12 Monate genehmigt – zu Beginn noch ausschließlich für Erwerbsunfähige. Inzwischen sind die Teilnehmer mehrheitlich Langzeitarbeitslose aus dem Hartz IV-System, meist gehören nur ein bis zwei zu den Erwerbsunfähigen. Die Erwerbsunfähigen nehmen freiwillig am Programm teil, für die Langzeitarbeitslosen ist die Maßnahme hingegen obligatorisch.

Johanna Richter* (39 Jahre) ist eine der erwerbsunfähigen Teilnehmer, die auf eigenen Wunsch an „Auffordern statt Aufgeben“ teilgenommen haben. Depressionen, Essstörungen und selbstverletzendes Verhalten führten dazu, dass sie mit Anfang 30 nach abgebrochener Lehre und Studium vorläufig verrentet wurde. Mit dem Gießener Projekt hat sie sich zurück Richtung Arbeitsfähigkeit gekämpft und gerade ihre Ausbildung zur Maßschneiderin abgeschlossen.

Die Maßnahme als Belastungsprobe

Frank Ziegel* (48 Jahre) und Hans Fleischer* (58 Jahre) hingegen gehören zu den Langzeitarbeitslosen im Programm AsA. Bei ihnen ist die Teilnahme an der Maßnahme sowohl eine Belastungsprobe als auch der Versuch, ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten.

Frank Ziegel, der ausgebildeter Betriebsschlosser ist, hat in Perioden der Arbeitslosigkeit erst einen Bandscheibenvorfall, dann einen Schlaganfall und einen Herzinfarkt erlitten. Aktuell arbeitet er 4,5 Stunden täglich in der Schreinerei des Trägers. „Das klappt schon, aber ich habe Probleme, wenn ich zu lange stehe“, sagt er. „Wenn ich arbeite, darf das halt körperlich nicht zu belastend sein.“

Hans Fleischer hat nie eine Ausbildung gemacht, aber immer in Fabriken oder Abbruchfirmen gearbeitet, arbeitslos ist er nun seit 2005. Der 58-Jährige leidet unter starken epileptischen Anfällen. Ein verkürztes Bein und eine Lernbehinderung erschweren die Jobsuche. Auch er arbeitet vormittags in der Schreinerei.

Aktuell liegen beide über der Drei-Stunden-Marke. Sind drei Stunden Arbeit pro Tag auf Dauer nicht möglich, muss überprüft werden, ob sie vom Hartz IV-System (Sozialgesetzbuch II) in die Sozialhilfe (Sozialgesetzbuch XII) wechseln. Finanziell zuständig ist dann nicht mehr das Jobcenter, sondern der Landkreis. Tatsächlich verbleiben die meisten Betroffenen allerdings auch bei massiven Einschränkungen im Hartz IV-Bezug. „Die Hürden sind hier sehr hoch“, erklärt Katja Gänger, die als Sozialpädagogin bei der Jugendwerkstatt arbeitet.

AsA lässt den Trägern großen Gestaltungsfreiraum

„Beide Männer profitieren von den vielen Spielräumen, die Auffordern statt Aufgeben dem Träger lässt“, so Gänger. Bei AsA könne die Förderung deutlich freier gestaltet werden, als das bei den Maßnahmen des Bundes der Fall sei. Man müsse den Teilnehmern kein „Maßnahmenkorsett“ überstülpen. So könnten die Teilnehmer zu Beginn auch mit nur einem halben Arbeitstag einsteigen und müssten nicht, wie beispielsweise bei den Ein-Euro-Jobs, sofort 30 Stunden die Woche arbeiten.

„Die Teilnehmer hier sind eine sehr heterogene Gruppe“, ergänzt Mirjam Aasman, Referentin der Geschäftsleitung. Das Alter reiche von 19 bis 59, manche seien gar nicht ausgebildet, andere hätten Abitur und sogar ein Studium begonnen. „Die haben natürlich auch ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Und auf die können wir dank AsA ganz individuell eingehen.“ Ein weiteres Plus: Im Unterschied zu den Bundesmaßnahmen falle wesentlich weniger Dokumentation an. Die Zeit könne sinnvoll für die Betreuung der Teilnehmer genutzt werden. „Ich habe hier die Freiräume, mit den Teilnehmern Zeit zu verbringen“, sagt Frau Gänger.

Das schätzt auch Stefan Henkel*. Der 25-Jährige kämpft seit Jahren mit psychischen Problemen und immer wiederkehrenden Rückfällen in die Drogen-, Tabletten- und Alkoholsucht. Im AsA-Projekt werden Arbeitsinhalte und -stunden an seine aktuelle Verfassung angepasst. Die Arbeit gibt ihm Struktur und führt ihn langsam zurück in ein suchtfreies Leben. Sein Ziel ist es, eine Ausbildung nachzuholen. Aktuell ist er zum ersten Mal außerhalb einer Klinik seit 14 Wochen clean.

Vor allem die intensive persönliche Betreuung, die AsA durch die vielen Gestaltungsspielräume möglich macht, scheint ein wesentlicher Erfolgsfaktor sein. Die Teilnehmer berichten durchgängig von einer sehr engen und vertrauensvollen Beziehung zu ihrer Sozialpädagogin. Die resümiert: „Auffordern statt Aufgeben ist für die Teilnehmer vor allem eine Chance, abseits von den regulären bundespolitischen Arbeitsmarktmaßnahmen eine sinnvolle, da auf die jeweiligen Bedürfnisse angepasste, Förderung zu erhalten. Wir können so deutlich erfolgreicher arbeiten.“

Zum Weiterlesen:

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